Ich sitze gerade an meinem Fenster, ein Buch in den Händen. Die Morgensonne wirft langsam wandernde Schatten des Gitters auf den Tisch neben mir. Ein Spinnennetz zwischen den Metallstreben schwingt in einer leichten Briese.
Die darin verfangenen Fliesen werfen ein tanzendes Lichtspiel auf meinen Schoß.
💬 „Für einen Wandel, den wir unbedingt brauchen, angesichts der zerstörerischen Klimakatastrophe.“
— Letzte Generation (@AufstandLastGen) August 28, 2023
🗓️ Heute wurde Kevin Hecht nach 29 Tagen Haft aus dem Gefängnis in Cottbus entlassen.
📨 Knapp 200 Briefe wurden ans Gefängnis geschrieben, für die sich Kevin herzlich bedankt. pic.twitter.com/URWObZtdKI
Ein Notizheft nebst Bleistift und einem Radiergummi in Form eines kleinen roten Büchleins liegen griffbereit auf dem Tisch.
Das gerade gelesene Kapitel „Gibt es eine behinderte Identität – Überlegungen zur Paradoxie der Funktionalität der Macht“ lässt meine Gedanken rasen. Als ich darüber nachsinne, wie friedlicher ziviler Widerstand zur Identitätsbildung mündiger Bürger*innen beiträgt, fällt mein Blick auf das kleine rote Büchlein neben meinem Bleistift. Ich beginne zu lachen. Wie ich mich dabei an die vegane Streichcreme nach Art einer Teewurst von gestern erinnere, kann ich nicht mehr an mir halten. Kurz breche ich in Gelächter aus. Die zahlreichen Abenteuer eines aufmüpfigen Beuteltiers durchfluten meinen Kopf.
Über die Desuboreli-Nation enden die Erinnerungen bei der folgenden Szene: „Die Geschichte wird mich freisprechen!“, schreit das Känguru. Verdutzt fragt Marc-Uwe: „Was sollte denn das jetzt?“
Die lapidare Antwort des Kängurus: „Das wollte ich immer schon mal gesagt haben.“
Diese Szene begleitet mich seit Jahren. Weil sich die Bedeutung für mich so fundamental verändert hat. Vor gut 10 Jahren war diese Szene für mich einfach witzig. Ich habe herzlich gelacht. Ein Aufatmen und Lichtblick in einer düsteren Zeit meines Lebens. Mit ersten Kontakten zu friedlichem ZU wandelte sich die Bedeutung. Anerkennung und Wertschätzung empfand ich nun gegenüber den mutigen Menschen, welche für Klimaproteste sogar rechtliche Konsequenzen riskierten.
Stolz, Bestätigung und Legitimation empfand ich mit meinen ersten eigenen ZU Aktionen.
Ich war mir nun sicher, die Geschichte würde uns (also auch mich) freisprechen.
Doch das war noch nicht das Ende. Im letzten Jahr hat sich die Bedeutung mit der Letzten Generation erneut drastisch gewandelt.
Als die ersten gelben Briefe kamen, wurde aus Bestätigung Hoffnung. Hoffnung, die die Angst vertreiben sollte.
Die letzte große Wandlung erfuhr der Satz nach meiner ersten (U-)Hafterfahrung. Alle anderen Bedeutungen waren nur noch ein Schimmer. Letztlich verlor der Satz ganz an Bedeutung. Mir wurde egal, wie meine Taten in Zukunft vielleicht bewertet werden.
Denn angesichts der bedrohlichen Klimakatastrophe, hat für mich Priorität, dass es überhaupt noch eine Zukunft gibt in der Raum zum Reflektieren bleibt. In der Naturkatastrophe, Hunger, Ströme von flüchtenden Menschen, … Leid, nicht den Alltag bestimmt.
Ich bin im Gefängnis Cottbus-Dissenchen in Haft, weil ich dem zerstörerischen, fossilen Kurs der deutschen Bundesregierung nicht länger tatenlos zusehen konnte. Dafür, dass ich mich in einer friedlichen Straßenblockade festgeklebt habe.
Dies wurde nicht nur als Widerstand, sondern als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamt*innen gewertet, weshalb ich nun einsitze.
Dass friedlicher ziviler Widerstand und Protest, auch in Form von friedlichem zivilem Ungehorsam, legitim und notwendig ist, sieht für mich angesichts des bevorstehenden Klimakollaps außer Frage.
Auf Grund des immer kleiner werdenden Zeitfensters, ist aus meiner Sicht ZU sogar dringend erforderlich. Historische Beispiele für die Wirksamkeit von friedlichem zivilem Ungehorsam gibt es zu Hauf. Schon drücken die Worte Hannah Arendt’s und ihre Bumerang-These im Stift in meiner Hand.
Der kleine weiße Rosenbusch vor meinem Fenster, mit den Stahlstreben, gibt sein Übriges dazu.
Doch ich möchte einen anderen Ansatz versuchen und aufzeigen wie friedlicher ZU zur Identitätsbildung mündiger Bürger*innen beiträgt.
Was ist überhaupt Identität?
Mit einem Personalausweis oder Pass weisen wir unsere Identität nach. Name, Größe, Gewicht, Augenfarbe, … und ggf. Fingerabdrücke.
Mit einem amtlichen Stempel reicht das um uns zu identifizieren. Doch identifizieren wir uns selbst nicht mit Eigenschaften? Vielleicht unserem Beruf oder Besitz? Mit verschiedenen Gruppen, Ideen, Werten, Zielen und Idealen, die wir mit anderen Menschen teilen?
Wie passt das mit der Einzigartigkeit unserer Person zusammen? Eben genau deshalb! Weil unsere Ich-Identität im Wechselspiel mit anderen Menschen entsteht. Durch das ständige (Neu-)Feststellen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. So entsteht eine einzigartige Mischung. Unser Ich. Eine ganz individuelle Identität.
Gerade weil Identität sich erst im Kontakt mit anderen bildet, ist sie auch nicht starr. Im Wechselspiel unserer Beziehungen verändert sie sich und Teile werden ständig neu gebildet. Die vereinzelten Ich-Du-Beziehungen bilden ein Netz mit vielen Verzweigungen. Die Gesellschaft in der wir leben.
Die Macht über und in dieser Gesellschaft zu entscheiden haben wir im demokratischen System Politiker*innen anvertraut. Macht im Sinne von einer Befugnis über etwas oder andere zu bestimmen. Um Machtmissbrauch zu vermeiden, gibt es u.A. das Deutsche Grundgesetz.
Machtausübung erzeugt Unterwerfung. Ganz unabhängig von der Legitimation. Aus der Unterwerfung ergibt sich immer die Möglichkeit der Verteidigung, Verweigerung oder Widerstand.
Denn wo es Macht gibt, so Foucault 1991, „… gibt es Widerstand. Und doch oder gerade deshalb liegt Widerstand niemals außerhalb der Macht.“
Unterwerfung und Widerstand bilden ebenfalls ein Wechselspiel, welches die Identität formt. Damit sind sämtliche Interaktionen gemeint. Also nicht allein Staat und Gesellschaft, sondern auch alle zwischenmenschlichen Beziehungen.
Dabei erfordert Unterwerfung eine ständige Neuorientierung und Anpassung.
Sich-Widersetzen hat hingegen eine festigende Wirkung auf das Ich. „Seinen Standpunkt vertreten“ oder „sich seiner Sache sicher sein“ sind gute Verdeutlichungen.
Widersetzen ist ein Mittel der Identitätsbildung, da hierbei die Unterdrückung überwunden wird.
Die Entwicklung von Identität ist somit nur möglich, wenn Machtbeziehungen veränderbar und offen sind. Offen für Verweigerung und Widerstand. Ist dies nicht der Fall, so folgt daraus eine Entmächtigung. Betroffene fühlen sich sehr wahrscheinlich hilf-, wehr- und schutzlos. Denn ihre Selbstbestimmung kann nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Unterwerfung ist nicht generell negativ. Sie kann mit einem Anspruch auf Sicherheit und Verlässlichkeit verbunden sein. Dann gibt es sie nie zu ertragen.
Bereits hier bietet sich mit dem Verfassungsgerichtsurteil ein Übergang zu ZU an. Aus dem Urteil geht klar hervor, dass die deutsche Bundesregierung keine ausreichenden Maßnahmen vorlegen kann, um das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten und damit die Lebensgrundlage jetziger und zukünftiger Generationen sicher zu stellen. Eine zufriedenstellende Nachbesserung liegt bis heute nicht vor.
Das stellt weiterhin ein Bruch des Grundgesetzes gem. Art 20a dar.
Für Bildung der Identität geht es noch weiter. Wie beschrieben ist Widerstand ein Teil der Machtverhältnisse.
Bezogen auf die Klimabewegung schließt Widerstand alle Aktionsformen ein. Von Petitionen, Briefen an Abgeordnete, Demonstrationen, … bis hin zu zivilem Ungehorsam.
Würde zur Identität und Macht. Wenn kein Widerstand möglich ist und die Selbstbestimmung verloren geht, wird aus Macht Gewalt. Gewalt ist dabei physische oder psychische und zielt auf die Verletzbarkeit eines Menschen ab. Diese Verletzbarkeit ist Voraussetzung für menschliches Miteinander.
Genau so wie Empathie wird erst aus der Ich-Es-Beziehung eine Ich-Du-Beziehung. Eine zwischenmenschliche Beziehung. Eine reale Beziehung zwischen Menschen. Sich im Anderen zu erkennen und das Gegenüber gleichzeitig anzuerkennen (vgl. Holz 2003) ist der Kern der menschlichen Identität.
Verständnis, Achtung und Mitgefühl sind somit Grundbausteine von Identität. Wobei mit-fühlen klar von mit-leiden abzugrenzen ist.
Es ist ein überwältigendes Mitgefühl, was die Klimabewegung verbindet. Akzeptanz und Verständnis, dass Menschen schon jetzt unter den Folgen der menschengemachten Klimakatastrophe leiden. Die Ohnmacht und die Fassungslosigkeit über regierende Politiker*innen. Die Ängste zu teilen, dass uns und nachfolgenden Generationen immenses Leid erwartet.
Auch im Hinblick auf die Massendemonstrationen von FF, finde ich, Identitätsbildung lässt sich gut in einem Lied zusammenfassen.
Ich glaube es heißt „Kinderhände“.
„…
Hat so kleine Augen.
Darf man nie verbinden.
Weil sie sonst nichts mehr sehen.
Hat so kleine Ohren.
Darf man nie zerbrüllen.
Weil sie sonst nichts verstehen.
Hat son kleines Rückgrat.
Darf man niemals beugen.
Weil es sonst zerbricht.
Grade klare Menschen,
wär’n ein schönes Ziel
Menschen ohne Rückgrart,
ham wir schon zu viel.“
In Artikel 1 des Grundgesetzes wird die Würde des Menschen geschützt. Die Würde DES Menschen ist unantastbar. Nicht der jetzt lebenden Deutschen, sondern des Menschen. Aller Menschen.
Die Würde hat einen so hohen Stellenwert (zumindest dem Gesetz nach), dass es der allererste Artikel im deutschen Grundgesetz ist.
Würde ist, leider wie ich finde, ein kaum noch genutztes Wort. Damit scheint auch die Achtsamkeit für die Würde verloren zu gehen.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff Würde?
Über dieses eine Wort existieren massehaft Abhandlungen, Interpretationen und Analysen. Greifbar und verständlich finde ich die Ergebnisse aus einem Seminar zu Würde, Eigensinn und Identität. Auch weil ich gerade in Cottbus im Knast für eine Klimaaktion sitze, ist Recherche gerade schwierig.
In dem Seminar sollten Studierende Begriffe sammeln, die Würde bzw Entwürdigung beschreiben.
Entwürdigung wurde mit
– Erniedrigung
– Abwertung
– Ignoranz
– Seelischer und körperlicher Zwang
– Bloßstellung
– Beschämen
– Missbrauch
– Machtausnutzung
– Gewaltanwendung
– Fremdbestimmung
verbunden.
Würde zu besitzen bedeutete dagegen:
– Ernst genommen werden
– Freie Meinungsäußerung
– Akzeptanz von (körperlichen) Grenzen
– Respekt im Umgang
– Akzeptanz des Andersseins
– Wertschätzung der eigenen Arbeit/Tätigkeit
– Freude zu erleben
– So wie ich bin, bin ich richtig
– Positive Resonanz
Diese Liste ist nicht repräsentativ, doch gibt einen Eindruck.
So, was jetzt noch zum Abschluss fehlt, sind ein paar mitreißende Worte über zivilen Ungehorsam, richtig? Dass die Politik notwendige Maßnahmen zu lange „verschlafen“ hat, um angemessen auf die Klimakatastrophe zu reagieren. Dass wir dringend die notwendigen Maßnahmen brauchen.
Dass wir zivilen Ungehorsam brauchen, um lebensschützende Maßnahmen zu fordern.
Äh, nö. Denke nach. Informiere dich. Empör dich! Übernimm Verantwortung. Werde aktiv.
Für mich ist ziviler Ungehorsam die vielversprechendste Möglichkeit, von unserer Regierung die dringendst benötigten Maßnahmen einzufordern, um das 1,5 Grad-Ziel noch einzuhalten.
Für dich auch?
Love and Rage
Kevin Hecht
Aug 23 aus der JVA Cottbus
Pressekontakt
Carla Hinrichs
Telefon: +49 3023591611
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