Anklage zur kriminellen Vereinigung kommt im Herbst

– Staatsanwaltschaft Neuruppin setzt „Schnüffel-Paragraph“ ein –

Unterstützer:innen der Letzten Generation demonstrieren heute Morgen seit 7.30 Uhr gegen die Anwendung des §129. Weitere Bilder hier.

Berlin, 09.10.2023, 8.25 Uhr – Das Verfahren gegen die Letzte Generation wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung erreicht die nächste Stufe. 

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin beabsichtigt, bis Ende 2023 Anklage gegen die Letzte Generation zu erheben. So teilte es die zuständige Staatsanwältin Gregorian in einem Telefonat einem unserer Rechtsanwälte mit. Im Oktober solle den Beschuldigten die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden, dann werde man den Prozess eröffnen.

Auf den Schreibtischen unserer Anwält:innen stapeln sich inzwischen große Teile der Akten: tausende Seiten über die Letzte Generation, insgesamt 30 GB PDF-Dokumente, unterteilt in 89 Ordner mit etlichen Unterordnern. Sämtliche Proteste, die je in Brandenburg stattgefunden haben, finden sich hier wieder. Beim Überfliegen der Seiten liest man von rund einhundert verschiedenen Namen – auch von Menschen, die nur ihre Freunde von der Polizeistation abgeholt haben.

Während der sogenannte „Schnüffel-Paragraph“ [1] in der Vergangenheit bei sozialen Bewegungen in der Regel als reines Ermittlungsinstrument eingesetzt wurde [2], geht es nun um die Einschüchterung der Zivilgesellschaft. [3] Es ist das erste Mal, dass Paragraph 129 gegen die Klimabewegung angewendet wird.

Rechtswissenschaftler Dr. André Bohn ordnet diese alarmierende Entwicklung ein: „Die geplante Anklage ist eine neuartige Eskalation gegen politische Teilhabe der Zivilgesellschaft und öffnet noch restriktiverer Politik Tür und Tor. Es geht hier nicht um die Letzte Generation, sondern um unser aller demokratische Rechte.“

Allein die Konsequenzen der Ermittlungen sind erheblich: Razzien in den frühen Morgenstunden, Abhörmaßnahmen, Standortüberwachung – und das nicht nur gegen Unterstützer:innen der Letzten Generation. Auch Journalist:innen waren von der Telefonüberwachung betroffen, und zwei Unternehmen, die für Fridays for Future lediglich Flyer gedruckt und Demo-Material geliefert hatten, wurden durchsucht. Reporter ohne Grenzen (RSF), die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die betroffenen Unternehmen und Fridays for Future klagen gegen die Maßnahmen. [4],[5]

Es ist erschreckend, wie § 129 hier angewendet wird. Der Staat konstruiert sich eine Möglichkeit, all diejenigen, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen oder gar nur andere dabei unterstützen, mit allen Mitteln zu kriminalisieren. [6]

Unsere Demokratie funktioniert nur mit der Energie und den Ideen der Zivilgesellschaft. Inmitten vieler Krisen erinnern wir und zahlreiche andere Bewegungen die Regierung daran, ihre eigenen Gesetze einzuhalten. Auch zur Stunde blockieren in Berlin wieder Unterstützer:innen der Letzten Generation die Straßen und machen klar, dass es so nicht weitergehen kann. 

Die Antworten auf ihr Engagement sind solche Ermittlungen und nun eine absehbare Anklageerhebung. Was ist das für ein Zeichen an alle Bürger:innen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren?

Quellen
[1] Erklärung zum Schnüffel-Paragraph bei ZEIT online.
[2] Es gab zahlreiche Ermittlungen gegen die Anti-AKW-Bewegung (S. 9-11), die Anti-Gentechnik-Bewegung, bei den G8-Protesten 2007 und auch entsprechende Forderungen in Mutlangen (Friedensbewegung). I.d.R. brauchte es für solche Verfahren schwere Delikte (Brandstiftung, versuchte Gefährdung von Menschenleben usw.) und die meisten Verfahren wurden eingestellt.
[3] Die Einschüchterung der Zivilgesellschaft erfolgt u.a. durch Mechanismen, die in der Rechtswissenschaft als „chilling effects“ bezeichnet werden (Abschnitt „Einschüchterung und Abschreckung“).
[4] Reporter ohne Grenzen geht gegen Überwachung vor.
[5] Der Spiegel über Vorgehen gegen Fridays for Future.
[6] Siehe §129 StGB.